Stellungnahme zur EKD-Schrift – „Antisemitismus. Vorurteile, Ausgrenzungen, Projektionen und was wir dagegen tun können“

Dr. Martin Breidert: Nicht  nur die Kirche, alle gesellschaftlichen Kräfte müssen gegen Antisemitismus vorgehen. Die Frage ist allerdings,  wie  Antisemitismus zu definieren ist. Die EKD-Schrift  berücksichtigt  nicht  die empirische Studie von Wilhelm Kempf „Israelkritik zwischen Antisemitismus und Menschenrechtsidee“ (2015), die zu dem frappierenden Ergebnis kommt, dass antisemitische Klischees unter den Freunden Israels  häufiger sind als unter denen, die sich für die Menschenrechte der Palästinenser einsetzen. Es fehlen auch  einige wichtige Aussagen  des Antisemitismusberichts der  Bundesregierung (2017). Alle verfügbaren Daten zeigen, dass die Häufigkeit antisemitischer Einstellungen in Deutschland kontinuierlich sinkt – sowohl über die vergangenen Jahrzehnte als auch über die vergangenen 15 Jahre (Antisemitismusbericht 2017, Seite 62).  Zum Beispiel wollen keine Juden als Nachbarn haben: 5 Prozent der Bevölkerung – praktisch ebenso viele wie keine schwarzen Nachbarn (4 Prozent) oder keine Italiener (3 Prozent). Dagegen keine Osteuropäer 14 Prozent, keine Muslime 21 Prozent (!), keine Sinti und Roma 31 Prozent (AS-Bericht 2017, Seite 69).

Letztlich steht es  weder der Bundesregierung noch   den Kirchen noch irgendwelchen Kommissionen zu, darüber zu befinden,  was als Antisemitismus zu werten ist.   Allein die Gerichte sind befugt zu entscheiden, was im  Sinne des §  130 StGB als  antisemitische Volksverhetzung zu verstehen ist.

In der EKD-Schrift wird behauptet, Juden  könnten in der Öffentlichkeit nicht mit Kippa  erscheinen. Ein Jude, der zwei Jahre mit Kippa durch München ging,  berichtet in der SZ das Gegenteil:
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/selbstversuch-mit-kippa-durch-muenchen-1.2355644

Jüdische Freunde, die in Neukölln leben bzw. dort Verwandte haben, bestreiten energisch, dass dieser Berliner Bezirk eine No go area für Juden sei, wie in den Medien behauptet und von Stellen wie RIAS begierig aufgegriffen.

Auf S. 10 macht sich die EKD-Schrift  die  vom israelischen Minister Nathan Sharansky erfundene  3-D-Methode zu Eigen, die  in keiner Weise wissenschaftlichen  Ansprüchen genügt. Denn was ist als Delegitimierung und Dämonisierung und als doppelte Standards  zu verstehen?  
Wahr ist, dass sich  der Staat Israel selbst delegitimiert, wenn er Dutzende völkerrechtlich verbindliche Resolutionen des UN-Sicherheitsrates missachtet.  Wahr ist, dass der Staat Israel  die Palästinenser dämonisiert, wenn er sie  in toto  zu potentiellen Terroristen abstempelt. Doppelte Standards wendet Israel an, wenn es  für die Palästinenser in dem seit 50 Jahren besetzten Palästina Militärrecht anwendet, für die jüdischen Siedler  dagegen  israelisches Zivilrecht. 

Der jüdisch-israelische Philosoph Omri Boehm, der öfter in der New York Times  Beiträge veröffentlicht, schrieb in der ZEIT am  20.8. 2015 unter der Überschrift „Eine aufgeklärte Besetzung?“, Israel praktiziere „Apartheid“ und „Staatsterrorismus“:  http://www.zeit.de/2015/32/israel-terror-westjordanland-justiz-willkuer

Dass  es  in Israel selbst einen massiven Rassismus gegen Palästinenser („Araber“) gibt,  hat die jüdisch-israelische Soziologin Nurit Peled-Elhanan, Sacharow-Preisträgerin mit ihrer Studie „Palestine in Israeli School Books.   Ideology and Propaganda in Education“ nachgewiesen. Darüber berichten deutsche Medien nicht, sondern nur darüber, dass  sich das Umgekehrte in palästinensischen Schulbüchern findet.

Jedes Jahr laufen mehrere  tausend jüdische Israelis  am sog. Jerusalem Day durch die palästinensische Altstadt   von Jerusalem mit der Parole „Death to the Arabs!“

Der jetzige israelische Verteidigungsminister Avigdor Lieberman sagte im letzten Wahlkampf, man solle „Arabern“, die sich nicht loyal verhielten, die Köpfe abhacken:
http://www.sueddeutsche.de/politik/wahlkampf-in-israel-lieberman-will-arabischen-gegnern-den-kopf-abhacken-1.2386143

Die jetzige israelische Justizministerin fordert, man solle arabische Frauen töten, damit sei keine Schlangen gebären können:https://en.wikipedia.org/wiki/Ayelet_Shaked

In Deutschland wären beide Aussagen  wegen Aufruf zum Mord und  wegen Volksverhetzung strafbewehrt.  Stattdessen  eröffnete am 5.12. 2015 der deutsche Justizminister zusammen mit  seiner israelischen Kollegin in Berlin eine Konferenz mit dem Titel: „Rechtsstaat und Demokratie“.

Wenn man derartige Parolen bedenkt und  dabei  berücksichtigt, dass Israel seit Jahrzehnten Dutzende von UN-Resolutionen,  die IV. Genfer Konvention und die Menschenrechte missachtet, dann ist es verständlich, dass Muslime weltweit Wut auf Juden in Israel und in der Diaspora haben. Etwas verstehen bedeutet allerdings nicht, es zu billigen. 

Da  sich  die  offiziellen Vertreter des deutschen Judentums vorbehaltlos hinter Israels menschenrechtswidrige und völkerrechtswidrige Politik stellen, ist es nicht verwunderlich, dass sie deshalb in die Kritik geraten (S. 9).

Es ist schon erstaunlich, dass bei Pegida-Demonstrationen  auch israelische Fahnen geschwenkt wurden.  Statt gegen Islamfeindschaft vorzugehen,  ist die EKD -Schrift geeignet,  Vorurteile gegen  Zuwanderer aus muslimischen Ländern zu befördern.  Man erinnere sich, nicht Juden, sondern Muslime starben durch die  NSU-Morde.  Vor zwei Jahren brannten Moscheen in Berlin und im Saarland und nicht Synagogen. Es brannten mehrere hundert Flüchtlingsheime. Nicht Juden sind bedroht, sondern  vornehmlich muslimische  Flüchtlinge.  Es wäre zu begrüßen, wenn die EKD zu menschenfeindlichen  Einstellungen dieses Personenkreises etwas veröffentlicht hätte. Staat dessen heißt es in der Einleitung  (s. 2): „Antijüdische Ressentiments und Parolen  …  mischen sich häufig in die Beurteilung der Politik des Staates Israel und prägen die Haltung  vieler Zuwanderer, die nach Deutschland kommen.“

Ich begleite seit zwei Jahren Flüchtlinge aus Syrien, Irak, Iran und Afghanistan und kann diese  Verallgemeinerungen nicht bestätigen. Sie berichten mir immer wieder, dass sie von  deutschen Passanten verbal angegriffen und ihre Kinder auf dem Schulhof gemobbt werden.  Ich habe es bei der Wohnungssuche für  Flüchtlinge wiederholt erlebt, dass potentielle Vermieter mir sagten: „Wir vermieten nicht an Araber.“ – „ Wir vermieten nicht an Moslems.“ Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist  kein antisemitisches Phänomen, sondern  Teil eines alltäglichen Rassismus in Deutschland.  In den deutschen Medien wird offen darüber diskutiert, was alles am Islam anders werden müsste. Eine entsprechende  Diskussion gibt es  – glücklicherweise – nicht zum Judentum. Indem die EKD- Schrift unterstellt, Antisemitismus sei unter Zuwanderern weit verbreitet,  trägt sie  im Gewand eines Anti-Antisemitismus zum Klischee eines Anti-Islamismus bei.

Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz   erklärte zutreffend, was früher die Juden waren, sind heute die Muslime   in ihrer Funktion als Sündenböcke. Nicht nur Antisemitismus (S. 15), jede Form von Rassismus ist Gotteslästerung.

Antisemitismus  ist kein arabisches/muslimisches  Phänomen und wurde nicht von Zuwanderern importiert, wie S. 10 behauptet, sondern  ist eine europäische geschichtliche Erscheinung und Schuld (vgl.  den Aufsatz des jüdischen Befreiungstheologen Marc Ellis „Büßer als Machtmenschen“ in:  Religionen für Gerechtigkeit in Palästina-Israel, hg. U. Duchrow, Hans G. Ulrich, 2017, S. 128ff).

Zu Recht wird daran erinnert, dass Juden  und Jüdinnen nicht als homogene Gruppe verstanden werden dürfen (S. 11).  Das aber tut die Schrift (S. 9), wenn  Kritik an der Politik des Staates Israel  als  Antizionismus und damit als  Antisemitismus denunziert wird („israelbezogener Antisemitismus“).  Ungeachtet der üblichen salvatorischen Formel, natürlich sei Kritik an Israel erlaubt (S. 9 – Wer hat etwas zu erlauben? Gibt es wieder eine Inquisition?),  stellt sich die Schrift  vorbehaltlos vor den Staat Israel, ohne ein Wort über die Leiden der Palästinenser zu verlieren.

Hajo Meyer, deutscher Jude, der in den Niederlanden die  Nazi-Verfolgung  überlebte,  stand dem Internationalen Antizionistischen Netzwerk vor.  Es wäre absurd, ihn als Antisemiten zu bezeichnen. Geradezu pervers wird es, wenn deutsche Nichtjuden jüdischen Personen Antisemitismus unterstellen. Dieses Vorgehen ist  zwar keine tödliche Selektion, bewirkt jedoch  Rufmord.

Es   gibt   – Gott sei Dank! – jüdische Menschenrechtsorganisationen innerhalb und außerhalb Israels, die sich für die Menschenrechte der Palästinenser einsetzen und  ein Ende der völkerrechtswidrigen israelischen Besatzung fordern, z.B. Gush Shalom (Israel), Breaking the Silence, deren Ausstellung auf Intervention des israelischen Botschafters  in Köln verboten wurde, in der Diaspora  Jewish Voice for Peace (USA), Jews for Justice for Palestinians (UK), Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost e.V. (DE). Teilweise schließen sie sich der BDS-Kampagne an, außerdem die  israelische Organisation Boycott from Within,  der frühere Knesset-Sprecher Avraham Burg, der  israelische Historiker Ilan Pappe und viele andere.  Judentum darf nicht mit dem Staat Israel gleichgesetzt werden. Darum ist  Kritik am  staatlichen Handeln  Israels kein „israelbezogener Antisemitismus“.

Die EKD- Schrift bezieht sich auf die Menschenrechte (S. 7).  Ich war selbst Dozent für Sozialethik an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal mit dem Schwerpunkt Menschenrechte.  Was ich bei zwei Studienreisen im besetzten Palästina erlebte, widersprach krass dem, was ich den Studierenden zu vermitteln versucht hatte.

Das ist nicht nur meine persönliche Erfahrung. Internationale Menschenrechts-organisationen haben immer wieder massive Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Regierung  angeprangert:  Amnesty International, UN-Menschenrechtsrat, Unicef, UN-Organisation OCHA OPT,  und sogar das sonst diplomatisch zurückhaltende Internationale Komitee vom Roten Kreuz.

Auch israelische Menschenrechtsorganisationen kämpfen gegen die massiven Menschenrechtsverletzungen, die mit der israelischen Besatzung seit 50 Jahren einhergehen: Amnesty International – Israel, Women in Black,  Machsom Watch, Coalition of Women for Peace: Who Profits?, B’Tselem, Rabbis for Human Rights, Physicians for Human Rights, Human Rights Defenders Fund, Israeli Committee Against House Demolitions (ICAHD), The Jahalin  Association (“Nowhere left to go”), Negev Coexistence Forum (NCF). Gisha – Legal Center for Freedom of Movement, HaMoked Center for the Defence of the Individual, Zochrot  (Erinnerung an die Vertreibung der Palästinenser 1947/48),The Other Voice  (Friedensorganisation von Nomika Zion/Sderot), Jesh Din (“Es gibt ein Recht”), Public Committee Against Torture in Israel.

Es fällt auf, dass in dieser EKD-Schrift ebenso wie bereits früher in der EMOK-Stellungnahme zur palästinensischen Kairos-Erklärung oder in den Beschlüssen der Rheinischen Kirche von 1980 oder 2016 jeglicher Bezug zu den Leiden der Palästinenser fehlt: Nakba, Annexion palästinensischen Landes, Hauszerstörungen, Beschränkung der Bewegungsfreiheit durch Checkpoints, Administrativhaft, Mauer/Sperranlage,   Blockade des Gazastreifens,  sog. Siedlungsbau, Zwei-Klassenrecht (Zivilrecht für jüdische Siedler, Militärrecht für Palästinenser).  Was ist das für ein jüdisch-christlicher Dialog, der  die Palästinenser  ausblendet und das real existierende Judentum der Siedler verschweigt?

Die EKD-Schrift bringt viele Bibelzitate, wird aber damit kaum  muslimische Zuwanderer erreichen und gar überzeugen. Die  auf  S. 14 genannten Gebote  gelten nicht nur für Christen und  Juden, sondern ebenso auch für Muslime. Es finden sich im Koran ebenso viele positive Bezüge zum Christentum, wie  es positive Bezüge  zwischen Christentum und Judentum gibt.

Mit ihrer Schrift  „Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland“ hat die EKD nicht gerade  zu einem besseren Miteinander von Christen und Muslimen beigetragen, sondern Vorurteile und Klischees  verstärkt.

Zu all den biblischen Bezügen, die zwischen Judentum und Christentum hergestellt werden, ist zu sagen, dass  Jesus und Paulus  nicht das Land in den Mittelpunkt der Verheißungen stellen, während  das real existierende Judentum der Siedler  glaubt,  durch die gewaltsame Eroberung  von Erez Jisrael   zur „Erlösung“ beizutragen. Diese  Auffassung widerspricht sowohl dem christlichen Erlösungsverständnis als auch dem Völkerrecht. Daher war es peinlich, als der israelische UN-Botschafter bei der Verhandlung zur Resolution 2334  des UN-Sicherheitsrates am 23.12. 2016 die Bibel schwang, um die völkerrechtswidrige israelische Okkupation zu rechtfertigen.

Auf S. 16 wird auf eine judenfeindliche   Auslegung des ius talionis hingewiesen.  Leider hält sich die israelische Regierung und Armee in keiner Weise an dieses  völkerrechtlich verankerte Mäßigungsgebot, wie  die Libanonkriege  und die Gazakriege  gezeigt haben.  Bei angeblichen oder tatsächlichen Selbstmordattentätern zerstört  die israelische Armee regelmäßig und  völkerrechtswidrig die Häuser ganzer Familien, wie das Israeli  Committee  Against House Demolitions immer wieder anklagt.

Die EKD- Schrift erweist sich als eine Gefälligkeitsschrift für den Zentralrat der Juden in Deutschland, die in ihrer Einseitigkeit und Einäugigkeit  unangenehm auffällt. 

Dazu muss man beachten, dass die israelische  Propaganda (Hasbara) zur Zeit mit großem finanziellen Aufwand  erneut versucht,   jegliche Kritik  am Staat Israel im Keim zu ersticken, wie ein israelisches Medium meldet:
https://www.ynetnews.com/articles/0,7340,L-5063599,00.html

Deutsche Kommunen fassen Beschlüsse,  keine   israelkritischen Veranstaltungen zuzulassen (München, Frankfurt, Berlin). Dabei gerät die in Art. 5 GG garantierte Meinungsfreiheit unter die Räder.  Leider beteiligt sich auch die evangelische Kirche daran. Man denke nur daran, wie  die  Tagung der Ev. Akademie in Tutzing  im Mai 2017  unter mysteriösen Umständen kurzfristig abgesagt wurde.   Zuvor war nach einem  Protestschreiben der jüdischen Kultusgemeinde (Gabriella Meros) ein Benefizkonzert in der Schwabinger Kirche  zugunsten von medico international in Gaza abgesagt worden. Die Palästinensische Gemeinde Bonn darf nicht  mehr die Räume der ESG benutzen. Eine Konferenz sollte vom 1. – 3 12. 2017 in den Räumen der  Ev. Stadtakademie  Aachen  stattfinden. Das Plazet  des Akademieleiters und des Superintendenten war gegeben.  Doch nach einer Intervention der Gesellschaft für Christlich- jüdische Zusammenarbeit  wurde die Tagung gestoppt.

Dr. Martin Breidert

 

EKD-Schrift – „Antisemitismus. Vorurteile, Ausgrenzungen, Projektionen und was wir dagegen tun können“ – pdf –  >>>