Positionspapier zu den Entschließungsanträgen „Historische Verantwortung wahrnehmen – Jüdisches Leben in Deutschland schützen“ vorgelegt von den Fraktionen der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und CDU/CSU

Im November 2023 haben die Fraktionen im Deutschen Bundestag die o.g. Entschließungsanträge vorgelegt. Hintergrund war der Gaza-Krieg, der ausgelöst worden war durch den Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023.

Zu diesen Entschließungsanträgen in der Vorabfassung[1] nimmt KoPI wie folgt Stellung:

KoPI unterstützt ausdrücklich die folgenden grundsätzlichen Ziele der Anträge:

  • Verurteilung der brutalen und menschenverachtenden Attacken der Hamas

Für Angriffe auf Zivilisten, Entführungen und Geiselnahmen sowie Missbrauch der eigenen Bevölkerung als Schutzschilde gibt es keinerlei Rechtfertigung.

  • Bekämpfung von Antisemitismus

Wir verurteilen jede Form von Judenfeindlichkeit; wir verurteilen es, Juden verbal oder gar physisch zu attackieren, nur weil sie Juden sind.

Einigen Überlegungen und Forderungen der Entschließungsanträge müssen wir jedoch deutlich widersprechen.

Wir halten es für unsere Pflicht, zu einer differenzierteren Betrachtung beizutragen; denn einseitige Positionierungen fördern nur die ohnehin schon zu beklagende Polarisierung bei diesem Themenkomplex und sind daher wenig geeignet, bei der notwenden Überwindung der Konflikte zu helfen.

1. Der Begriff des Antisemitismus

Dieser Begriff wird im öffentlichen Diskurs viel zu undifferenziert verwendet. Zwar wird immer wieder betont, Kritik am Staat Israel sei selbstverständlich möglich. Aber de facto ist häufig zu erleben, dass solche Kritik als antisemitisch diffamiert wird. Das gipfelt im Begriff des „israelbezogenen Antisemitismus“, mit dem jedem, der die Politik des Staates Israel kritisiert, unterschwellig ein verkappter Antisemitismus unterstellt wird. Dies führt dazu, dass viele sich nicht trauen, etwas Kritisches über Israel zu sagen, aus Furcht, in die „Antisemitismus-Ecke“ gestellt zu werden. Das heißt: Kritiker werden auf diese Weise mit der „Antisemitismuskeule“ mundtot gemacht. Das kann nicht im Interesse einer Demokratie sein, in der Meinungsfreiheit ein hohes Gut ist.

In den Entschließungsanträgen wird eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus u.a. für die verschiedenen Bildungseinrichtungen im Land gefordert. Dass gerade dort eine sorgfältige – und das heißt eben auch: differenzierte – Beschäftigung mit der Thematik unabdingbar ist, sollte selbstverständlich sein. Man muss sich auch klarmachen, dass eine pauschale, undifferenzierte Verwendung des Begriffs der Bekämpfung des tatsächlich existierenden Antisemitismus eher schadet als nützt.

Die Entschließungsanträge fordern, die „Arbeitsdefinition“ von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von 2016 zur Grundlage von Regierungshandeln und der „Arbeit der Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden des Bundes“ zu machen. Diese Definition ist jedoch in der Fachliteratur sehr umstritten, da auch sie zu wenig zwischen Antisemitismus im eigentlichen Sinne und Kritik am Staat Israel unterscheidet.

Wir wundern uns, dass immer noch diese veraltete und fragwürdige Definition herangezogen werden soll. Im März 2021 hat eine Gruppe von ca. 200 internationalen Wissenschaftler:innen mit Schwerpunkten in der Antisemitismus- und Holocaustforschung als Alternative die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus vorgelegt[2]. Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Erklärung zur Grundlage ihrer Überlegungen zum Antisemitismus zu machen. Die Fachleute, die sie verfasst haben, bringen nicht nur eine große Expertise mit; viele von ihnen sind auch selbst Juden.

2. Vorgehen gegen BDS

Auch der Bewertung der Bewegung BDS müssen wir deutlich widersprechen. Der Bundestagsbeschluss vom 17.5.2019 (Drucksache 19/10191) ist bereits kurz nach der Verabschiedung von den Wissenschaftlichen Diensten des Bundestags zu Recht als bloße Meinungsäußerung des Parlaments ohne rechtliche Bindungswirkung bezeichnet und damit relativiert worden[3]. Dennoch haben Kommunen und Universitäten immer wieder versucht, unter Berufung auf diesen Beschluss Veranstaltern, denen eine Nähe zu BDS manchmal nur unterstellt wurde, Räumlichkeiten zu verweigern. Deutsche Gerichte haben solche Verbote mehrfach als verfassungswidrig aufgehoben.[4] Die Vorgänge belegen aber das polarisierende, einem offenen Dialog abträgliche Klima, das durch den besagten Bundestagsbeschluss entstanden ist.

Übrigens gibt es zu diesem Beschluss ebenfalls einen „Aufruf von Jüdischen und Israelischen [!] Wissenschaftlern an Deutsche Parteien“ (Mai 2019), in dem es heißt: „Wir fordern alle deutschen Parteien auf, keine Anträge vorzulegen und zu unterstützen, die BDS mit Antisemitismus gleichsetzen.“[5] Dabei betonen die Unterzeichnenden, dass nicht alle die Maßnahmen, die BDS fordert, gutheißen. Aber sie nehmen eine verantwortungsvolle Güterabwägung vor, indem sie zwischen der subjektiven Kritik an bestimmten Maßnahmen und der Verurteilung der gesamten Bewegung als gesetzwidrig unterscheiden. Eine solch differenzierte Betrachtungsweise stünde auch dem Deutschen Bundestag gut an.

Die o.g. Jerusalemer Erklärung hält in Abschnitt C 15 ebenfalls fest: „Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch“. Ähnlich äußert sich die „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“, ein Zusammenschluss vieler „Repräsentantinnen und Repräsentanten öffentlicher Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen“, die auf der Grundlage dieser Einschätzung nachdrücklich dafür eintreten, dass der Grundgesetzartikel 5.3, der die Meinungsfreiheit garantiert, auch für BDS gelten müsse.[6]

Die grundlegenden Forderungen von BDS[7] stimmen alle mit zentralen Forderungen des Völkerrechts überein. Da BDS aber keine Organisation ist, sondern eine Bewegung, ist nicht prinzipiell auszuschließen, dass bei einzelnen Gruppierungen, die sich dieser Bewegung zurechnen, auch antisemitische Aussagen zu finden sind. Dies rechtfertigt aber keinesfalls ein generelles Betätigungs- oder Organisationsverbot, wie es in den Entschließungsanträgen angeregt wird. Auch hier erwarten wir ein differenziertes Vorgehen und eine sorgfältige Einzelfallprüfung.

Unserer freiheitlichen Grundordnung sind Diskussion und offene Auseinandersetzung angemessen, nicht aber Verbote, die auf einer sehr fragwürdigen Entscheidungsgrundlage beruhen.

Insgesamt wundern wir uns sehr und protestieren dagegen, dass bezüglich dieser beiden Punkte – Antisemitismusbegriff und Stellungnahme zu BDS – Stimmen von ausgewiesenen und international renommierten Fachleuten wie den hier genannten vom deutschen Parlament schlichtweg ignoriert werden. Die Verpflichtung gegenüber Israel darf aber nicht dazu führen, dass man blind wird gegenüber fundierter Argumentation von Experten.

3. Antisemitismus durch wertegeleitete Politik bekämpfen

In den Entschließungsanträgen werden viele vorwiegend rechtliche Maßnahmen gegen den bestehenden Antisemitismus gefordert. Wir sind jedoch der Überzeugung, dass das nicht genügt. Notwendig ist vielmehr eine Änderung der unausgewogenen Nahost-Politik, um endlich den fundamentalen Rechten aller in der Region lebenden Menschen gerecht zu werden.

Seit Jahrzehnten leben die Palästinenser:innen in den besetzten palästinensischen Gebieten in menschenunwürdigen Verhältnissen, die ihnen von der Besatzungsmacht Israel aufgezwungen sind: Die Besatzung des Westjordanlandes und die Abriegelung des Gazastreifens berauben sie ihres grundlegenden Rechts auf Selbstbestimmung und auf ein Leben in Freiheit und nehmen ihnen damit ihre Würde.

Deutsche Medien berichten zunehmend darüber. Von deutschen Regierungen sind Besatzung und Abriegelung aber kaum jemals mit Nachdruck verurteilt worden. Die Betroffenen haben das Gefühl, man ignoriere ihr Leid oder man halte es für weniger wichtig als das historische Leid der Juden. Die deutsche Politik muss sich die Frage gefallen lassen, ob nicht die vorbehaltlose Unterstützung des Staates Israel – die jüdische Publizistin Deborah Feldman spricht von „blinder Loyalität Deutschlands gegenüber Israel“ – mittelbar dazu beigetragen hat, die unmenschlichen Zustände in den besetzten palästinensischen Gebieten zu ermöglichen und zu verfestigen. Und damit muss sich die deutsche Politik die Frage gefallen lassen, ob sie nicht mitverantwortlich ist für diese unmenschlichen Zustände. Denn verantwortlich ist man nicht nur für die unmittelbaren Folgen seines Handelns, sondern auch für die mittelbaren, die man wissentlich in Kauf nimmt. Damit aber muss sich die deutsche Politik schließlich auch die Frage gefallen lassen, ob nicht sogar ihre eigene unausgewogene Haltung antizionistische und letztlich auch antisemitische Einstellungen begünstigt.

Natürlich wissen wir um die besonders heikle Lage, in der sich die Bundesrepublik in Bezug auf Israel als Folge unserer historischen Schuld sieht. Wer aber meint, zu einer vorbehaltlosen Unterstützung gehöre es auch, zu himmelschreienden Menschenrechtsverbrechen wie den oben skizzierten die Augen verschließen zu müssen, weil die Vorfahren der Täter einmal Opfer deutscher Politik waren, sollte sich darüber im Klaren sein, dass er damit neue Schuld auf sich lädt, diesmal gegenüber den Palästinensern.

Zu bedenken ist auch, dass die einseitige Positionierung der Bundesregierung zu einem weltweiten Glaubwürdigkeitsverlust führen kann. In der MENA-Region (Region Middle East & North Africa) z.B. wenden sich schon jetzt langjährige lokale Kooperationspartner zunehmend von deutschen Organisationen ab, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind, ebenso von deutschen politischen Stiftungen. Eine einseitige Positionierung lässt vielfach den Vorwurf laut werden, Deutschland messe mit zweierlei Maß, indem man – wie gesagt – das Leid der Palästinenser:innen geringer veranschlage als das der Israelis. Die Bundesregierung sollte sich ernsthaft die Frage stellen, ob ein solcher Vorwurf nicht tatsächlich eine gewisse Berechtigung hat und sie selbst durch ihr Verhalten dazu beiträgt, dass die gerne betonte „wertebasierte Außenpolitik“ in Schieflage gerät. Dadurch könnten Aversionen bei arabischstämmigen Menschen gefördert werden.

4. Militärische Zusammenarbeit beenden

Kritisch sehen wir auch die Forderung, die Rüstungskooperation zwischen Deutschland und Israel zu verstärken. Im Gespräch ist derzeit u.a. die Lieferung von Munition für Kriegsschiffe. Der Deutsche Bundestag muss sich bewusstmachen, dass dies gegebenenfalls auch bedeutet, dass der Gazastreifen vom Mittelmeer aus mit deutscher Munition beschossen wird. Das kann der Bundestag wohl kaum wollen. Er sollte vielmehr die Forderung von Amnesty International nach einem Waffenembargo für Israel und alle Staaten der Region unterstützen.

Insgesamt plädieren wir nachdrücklich dafür, dass auch gegenüber Israel der Waffenhandelsvertrag (Arms Trade Treaty, ATT) stärker beachtet wird, den Deutschland unterzeichnet und ratifiziert hat und der rechtlich bindend ist. Besonders wären hier die Artikel 6 und 7, Abs. 1, zu berücksichtigen[8].

5. Zusammenarbeit mit der palästinensischen Zivilgesellschaft in den besetzten palästinensischen Gebieten fördern

Seit Jahren unterstützt Deutschland in den besetzten palästinensischen Gebieten Menschenrechtsorganisationen, die wichtige Hilfe für die Zivilbevölkerung leisten – beispielsweise in Form von Nahrungsmittelhilfe, Gesundheitsversorgung oder Aufbau und Ausstattung von Schulen.

In letzter Zeit werden diese Organisationen immer wieder unter Generalverdacht gestellt, Terrorismus zu unterstützen; langjährige Kooperationen in der Entwicklungszusammenarbeit werden endlosen Überprüfungen unterzogen und mit Sanktionen bedroht. Eine Sanktionierung wichtiger NGOs schadet aber ausgerechnet den Organisationen, die sich innerhalb ihrer Gesellschaften für friedliche, demokratische und menschenrechtskonforme Entwicklungen einsetzen; sie gefährdet sogar letztlich ihre Existenz.

Wir fordern die deutschen Politiker daher auf, sich nachdrücklich dafür einzusetzen, dass die NGOs erhalten bleiben und weiterhin unterstützt werden, damit sie ihre Arbeit ungehindert fortsetzen können. Denn sonst rücken die angestrebten Entwicklungsziele – eine Stabilisierung der Region und eine langfristige Lösung des Konflikts, etwa im Sinne der auch von der Bundesregierung angestrebten Zweistaatenlösung – in sehr weite Ferne.

 

[1] Regierungsfraktionen: https://dserver.bundestag.de/btd/20/091/2009149.pdf; Fraktion der CDU/CSU: https://dserver.bundestag.de/btd/20/091/2009145.pdf

[2] https://diakblog.files.wordpress.com/2021/03/jda-deutsch_final.pdf

[3] Az. WD 3 – 3000 – 288/20 vom 21. Dezember 2020. https://www.bundestag.de/resource/blob/814894/cf6a69d010a1cc9b4a18e5f859a9bd42/WD-3-288-20-pdf.pdf Dies wird auch der Status der vorliegenden Entschließung nach Annahme durch den Bundestag sein.

[4] Siehe beispielsweise das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 17.11.2020: VGH 4 B 19.1358 und das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.01.22: BVerwG8 C 35.20https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-BECKRS-B-2020-N-32734?hl=true und https://www.bverwg.de/200122U8C35.20.0

[5] https://kairoseuropa.de/wp-content/uploads/2019/05/Aufruf-zu-BDS-Mai-2019.pdf

[6] https://www.humboldtforum.org/wp-content/uploads/2020/12/201210_PlaedoyerFuerWeltoffenheit.pdf

[7] Ending its occupation and colonization of all Arab lands and dismantling the Wall – Recognizing the fundamental rights of the Arab-Palestinian citizens of Israel to full equality – Respecting, protecting and promoting the rights of Palestinian refugees to return to their homes and properties as stipulated in UN Resolution 194. https://www.bdsmovement.net/what-is-bds:

[8] Siehe Bundesgesetzblatt: https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl213s1426.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl213s1426.pdf%27%5D__1700564466751